Freilassing - In diesen Tagen bekommen die bayerischen Mädels und Buben ihre Abschlusszeugnisse ausgehändigt. Vor genau 50 Jahren gehörte der frühere Bürgermeister der Stadt Freilassing, Josef Flatscher, zu den erfolgreichen Absolventen der Knabenrealschule. Waren die Siebziger eher „golden“ oder „wild“, wie man sie oft bezeichnet? Flatscher erinnert sich.

Wir schreiben das Jahr 1972. Die Buben schauten Fußball im „Ersten“ oder „Zweiten“. Die großen Spiele begannen um 20 Uhr, die Bundesliga am Samstagnachmittag um halb vier. Seinerzeit machte ein blonder, langhaariger „Mittelfeldstratege“ namens Günter Netzer mit seinen raumgreifenden Schritten und genialen Pässen auf sich aufmerksam. Er führte die deutsche Fußballnationalmannschaft zur Europameisterschaft. Schon zwei Jahre später hatte der Lack des Helden von Brüssel einige Kratzer bekommen.
Neue Namen spielten sich ins Rampenlicht und schafften den Gewinn der Weltmeisterschaft im Jahre 1974. Zu ihnen zählte ein intelligenter, junger Ballvirtuose, der aus Freilassing stammte, sich den Münchner Bayern angeschlossen und seine Weltkarriere in Gang gesetzt hatte: Paul Breitner.
„Gespielt wurde draußen mit dem, was wir in der Natur vorfanden“
Die Schulleitung der Freilassinger Knabenrealschule konnte in den 70er Jahren bedenkenlos Hitzefrei geben, daheim freuten sich die Eltern bereits auf ihre Schützlinge. Am Nachmittag würde man gemeinsam die Ernte einbringen. Das Einkommen eines Normalverdieners reichte für ein Häuschen im Grünen, einem kleinen Garten und einem verlässlichen Automobil, das häufig den Namen „Käfer“ trug. Mutter war daheim und kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder.
„Die spielten im Sommer meist draußen, auf Straßen, Wiesen und in Wäldern. Sand, Wasser und Holz waren die favorisierten Spielgeräte“, so Josef Flatscher, und genau wie sein Nachfolger ehemaliger Knabenrealschüler. In diesen Tagen werden die jungen Absolventen des Jahrgangs 2022 in der Kerschensteinerstraße verabschiedet.
Vor genau 50 Jahren verließ Josef Flatscher gemeinsam mit seinen Schulfreunden die Staatliche Realschule seines Heimatortes. In diesem Sommer traf man sich wieder und stattete der alten Lernstätte einen Besuch ab, um festzustellen, wie grundlegend Schule sich innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte verändert hat: aus der Knabenrealschule von einst ist die Realschule im Rupertiwinkel geworden, anstatt vier hat sie heute sechs Jahrgangsstufen, abgeschlossen wird sie mit dem mittleren Bildungsabschluss. Wo früher die Kreide im Einsatz war, findet man heute Laptops und Tablets mit Internetanschluss.
Soziale Werte aus dem Elternhaus
„Lange Haare und verwaschene Jeans lagen damals im Trend,“ so der engagierte Kommunalpolitiker früherer Tage. Die Lehrer seien Respektspersonen gewesen. „Es wurden klare Grenzen gesetzt.“ Die Eltern hätten sich Zeit für die Kinder und auch am schulischen Leben ihrer Sprösslinge Anteil genommen, auch wenn sie mit den inhaltlichen Anforderungen oft überfordert gewesen seien. „Man half sich untereinander, hockte sich abends mit den Nachbarn auf ein Bier zusammen“, so der kommunikative Rathauschef früherer Zeit. Die soziale Gemeinschaft sei den Menschen ein wichtiges Anliegen gewesen. Auch das Vereinsleben habe eine bedeutende Rolle gespielt.
Es wurden im sozialen Umfeld Werte vermittelt, die man heute unter dem Begriff der sozialen Kompetenzen fasst und die den jungen Sepp Flatscher und seine Generation entscheidend geprägt haben. Heute müssen sie Kindern gesondert vermittelt werden, weil es dieses Umfeld nicht mehr gibt.
„Freilassing wurde in dieser Zeit wirtschaftlicher Mittelpunkt im Landkreis“, so Flatscher. Hierfür sei die Nähe zur österreichischen Grenze und der Eisenbahnknotenpunkt ausschlaggebend gewesen. „Österreichische Firmen siedelten sich an und blieben bis heute, viele Menschen aus dem Nachbarland fanden Arbeit bei uns.“ Unsere österreichischen Nachbarn kamen nach Freilassing, um hier einzukaufen, weil es günstiger war. Es fanden Grenzkontrollen statt, der Zoll war eine wichtige Institution, der Warenschmuggel hatte Hochkonjunktur.
„Es war eine sehr schöne Zeit, aufregend, bunt und vielfältig“, so lässt Flatscher die frühen 70er Revue passieren. „Wir schrieben keine SMS, sondern traten uns zu Gesprächen direkt gegenüber. Mit wenig Geld in den Taschen, aber einer unbändigen Lebensfreude nach dem Motto: Weniger ist mehr!“

Johannes Vesper (Foto: freundlicher Genehmigung der Titelfigur)